100 Jahre Entwicklung:
Von der Werkstatt zur Teilhabe – und weiter
Als 1925 die erste Werkstatt in Münster von Westfalenfleiß gegründet wurde, stand sie für etwas, das damals selten war: die Chance, trotz Behinderung oder Kriegsschaden gebraucht zu werden. Die Arbeit war einfach, die Strukturen starr – und der Blick nach außen begrenzt. Menschen mit Beeinträchtigung wurden betreut, nicht beteiligt. Die Grenzen zwischen Hilfe und Ausgrenzung waren fließend.
In den Anfangsjahren ist die Werkstatt ein geschützter Raum, oft im wörtlichen Sinne. Wer hier arbeitet, braucht keine berufliche Qualifikation, sondern Fürsorge. Entscheidungen treffen andere. Die Welt draußen ist weit weg. Erst Jahrzehnte später beginnt ein tiefgreifender Wandel. Aus Schutz wird Teilhabe. Aus Beaufsichtigung wird Begleitung. Aus Beschäftigung wird Arbeit – mit echtem Wert.

Die Gesellschaft veränderte sich – und mit ihr das Selbstverständnis unseres Unternehmens, das heute auf eine hundertjährige Geschichte zurückblickt. Eine Geschichte, die von Wandel erzählt: vom Werkraum zum Lebensraum, vom Schlafsaal zum Einzelzimmer, von der Fürsorge zur Teilhabe.
Was einst als beschützende Werkstatt begann, ist heute ein Träger mit differenzierten Angeboten für Arbeit, Bildung, Wohnen und Unterstützung im Alltag. Die Fragen, die sich früher kaum stellten, sind heute zentral: Was braucht der Einzelne? Was will er? Und wie gelingt es, Strukturen so zu gestalten, dass sie Teilhabe nicht nur ermöglichen, sondern wirklich erlebbar machen?
Mit den Jahrzehnten wuchs auch die Idee, dass Menschen mit Behinderung mehr brauchen als Arbeit. Sie brauchen ein Zuhause. Und sie brauchen das Recht, selbst zu entscheiden, wie sie leben.
In den 1970er Jahren schuf Westfalenfleiß erste Wohnangebote. Die Einführung individueller Wohnformen und die Auflösung der Schlafsäle in den Wohnstätten war dabei ein Meilenstein. Wer die Enge dort erlebt hat, weiß, was ein eigenes Zimmer bedeutet: Rückzug, Ruhe, Selbstbestimmung. Nicht mehr mit einem Klebestreifen den Raum teilen. Nicht mehr erklären müssen, warum man die Musik leiser oder den Vorhang zuziehen will. Für viele war das der größte Fortschritt – im Alltag, in der Lebensqualität, in der Würde.
Wo früher Konflikte unvermeidlich waren, weil Privatsphäre fehlte, steht heute das Recht auf Rückzug, Ruhe und Selbstbestimmung. Eigene Zimmer, eigene Entscheidungen, ein Alltag, der nicht fremdbestimmt ist – das war kein Selbstläufer, sondern das Ergebnis jahrelanger Entwicklung und manchmal auch des Mutes, Dinge grundsätzlich anders zu denken.
Auch die Arbeitswelt hat sich verändert. Aus einfachen Handgriffen wurden qualifizierte Tätigkeiten, aus Werkstattplätzen wurden Außenarbeitsplätze, aus Betreuung wurde Begleitung. Menschen mit Behinderung gestalten ihre Lebenswelt heute mit – in Betrieben, bei Entscheidungen, in Beiräten. Und doch: Der Weg zur Inklusion war lang – und ist bis heute nicht abgeschlossen.

Noch immer stoßen Menschen mit Behinderung auf Barrieren – sichtbar und unsichtbar. Teilhabe ist oft möglich, aber nicht selbstverständlich. Gesetzliche Rahmenbedingungen, bürokratische Hürden, fehlende Ressourcen: All das erschwert es, wirklich passgenaue Angebote zu schaffen. Und doch zeigt sich immer wieder, wie viel erreicht werden kann, wenn Strukturen beweglich bleiben – und Menschen gesehen werden, nicht nur ihre Einschränkungen.
Westfalenfleiß ist heute ein Ort der Vielfalt: Menschen arbeiten, wohnen, leben und lernen hier – mit ihren Talenten, Eigenheiten, Lebensgeschichten. Nicht weil es einfach ist. Sondern weil es richtig ist. Und weil Inklusion keine fertige Lösung ist, sondern eine dauerhafte Aufgabe.
Westfalenfleiß ist kein fertiges Modell, sondern ein lernender Ort. Einer, der gewachsen ist – aus der Werkstatt heraus, in die Gesellschaft hinein. Der Wandel von der Fürsorge zur Teilhabe ist spürbar. Und doch bleibt er ein Auftrag.
Nach 100 Jahren steht Westfalenfleiß nicht am Ende einer Entwicklung, sondern an einem Anfang, der nie aufhört: die Zukunft so zu gestalten, dass alle dazugehören können – wirklich.
