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100 Jahre Westfalenfleiß – dies ist unsere Geschichte

Von der Werkstatt für Kriegsversehrte zur modernen Einrichtung für Teilhabe und Inklusion – ein Jahrhundert Veränderung, Verantwortung und Haltung.

1925

Das Stadt­parlament Münster beschließt die Einrichtung einer Schwer­erwerbs­beschädigten­werk­statt. Am 13. November gründen die Kredit­gemeinschaft KAGESO, der Landes­für­sorge­verband Provinz Westfalen (Vorläufer des LWL) und die Stadt die Westfalenfleiß GmbH, Gemein­nützige Werk­stätten Münster – nicht nur für Kriegs­versehrte. Besen, Bürsten, Spulen und Schlag­hölzer für die Textil­industrie sowie Korb- und Stuhl­flecht­erzeugnisse sind die ersten Produkte aus der Werk­statt Am Katthagen.

1926

Die Werk­statt, in der 30 bis 40 Personen beschäftigt sind, wird zum über­regionalen Modell für Neu­gründungen anderer Werk­stätten im Land. Vor öffentlichen Gebäuden in der Stadt übernimmt Westfalenfleiß sogenannte Radwachen, hier vor der Hauptpost oder der Stadt­verwaltung und Bade­anstalt – ein deutschland­weit zunächst einmaliges Projekt, das Vorbild für andere Städte ist.

1927

Der erste Umzug: Das Gebäude am Hafengrenzweg wird bis 1981 genutzt.

1928

In nur zwei Jahren ist die Anzahl der Be­schäftigten auf 100 gestiegen: Ende 1928 sind es zwölf Tischler, vier Drechsler, elf blinde Stuhl­flechter, 56 Einzieher, zwei Verkäufer, vier Tank­warte, 16 Fahrrad­wächter und 30 bis 40 Fürsorge­empfänger bei der Herrichtung von Brennholz.

1932

Die Wirtschafts­krise schlägt auch bei Westfalenfleiß zu: Es kommt zu Ent­lassungen, nur 72 Beschäftigte können bleiben und die Werk­statt hat ein Defizit von 24.000 Reichs­mark.

1933 - 1935

1933:
Zurück zur 100: Neben Kriegs­beschädigten und -hinter­bliebenen arbeiten nun auch Unfall­beschädigte, Blinde und so­genannte „Sieche“ bei Westfalenfleiß.

1934:
Das NS-„Gesetz zur Verhütung erb­kranken Nach­wuchses“ führt in Münster zu 539 Zwangs­steril­isa­tionen: Menschen mit Be­hinderung, angebliche Asoziale, Sucht­kranke – darunter auch Westfalenfleiß-­Beschäftigte. Der deutsch­national gesinnte Blumen­saat rettet das Unter­nehmen vor dem Konkurs.

1935:
Der Regional­verband über­nimmt die Anteile der KAGESO.

1939

Die Euthanasie beginnt. Der Status der Kriegs­beschädigten schützt auch andere Westfalenfleiß-­Beschäftigte vor der Ermordung. Viele Eltern bringen ihre Kinder deshalb tagsüber in die Werk­statt.

1941 - 1942

1941:

Aus mehr als 80 Ver­tretern für den Bürsten­vertrieb werden zwölf selbst­ständige Ver­treter. Die größten Abnehmer in den Jahren 1940/41 sind die Reichs­werke Hermann Göring, die Beleuchtungs­körper­fabrik Wattenscheid und mehrere Privat­unter­nehmen.

1942:

Ein Kreis­auflage­programm tritt in Kraft: Westfalenfleiß muss unter anderem an die Kreis­leitung der NSDAP spenden. Am 1. April wird die gesamte Fertig­ware be­schlag­nahmt und die Korb­macherei still­gelegt.

1944 - 1945

1944:
Die zwölf Vertreter müssen entlassen werden. Beim Groß­angriff auf das Hafen­viertel in Münster am 5. Oktober werden die Werk­statt­ge­bäude am Hafengrenzweg größten­teils zerstört.

1945:
Der Wieder­auf­bau beginnt: Dach, Türen und Fenster werden wieder her­gestellt, die Pro­duk­tion kann noch nicht voll auf­ge­nommen werden, weil das Haupt­strom­kabel noch nicht funktioniert. Es arbeiten damals elf Bürsten­macher, sieben Holz­verarbeiter und 20 Rad­wächter.

1947 - 1951

1947:
Die Westfalenfleiß GmbH tritt dem Verein der gemein­nützigen Werk­stätten NRW bei.

1951:
Westfalenfleiß beschäftigt mittler­weile 68 Personen: elf Schwer­kriegs­geschädigte, 43 Schwer­erwerbs­beschränkte und 14 „sonstige Leicht­beschädigte“. Durch die veränderte Behandlung der Kriegs­beschädigten und Re­habilitations­maßnahmen sinkt der Personal­bestand: 1960 gibt es nur noch 44 Betriebs­angehörige.

1968

Westfalenfleiß wird als „Be­schützende Wer­kstatt“ anerkannt. Ziel ist es, Menschen mit Behinderung umfassend zu fördern, sie zu einer optimalen Entwicklung ihrer Persönlich­keit und Fähig­keiten zu bringen.

1970 - 1974

1970:
Es gibt erste Frei­zeit­an­gebote für die Beschäftigten.

1973:
Garten- und Anlagen­pflege­arbeiten kommt als Arbeits­bereich der Werk­statt hinzu.

1974:
Aus der „Be­schützenden Werk­statt“ wird die „Werk­statt für Be­hinderte“.

1975 - 1980

1975:
Der LWL steigt als Gesell­schafter bei Westfalenfleiß aus und überträgt seine Anteile an die Arbeiter­wohlfahrt. Damit kommt es zur Trennung zwischen dem Träger der Werk­statt und dem Kosten­träger. Auch die Stadt Münster steigt aus – ihre Anteile übernimmt die Lebens­hilfe Münster/Westfalen, die bis Ende 2023 Gesell­schafter war.

1980:
Die Zweig­werk­statt Telgte wird gegründet: traditionelles Hand­werk, serielle Akten­über­arbeitung, später Elektro­montagen und weitere serielle Montage- und Verpackungs­arbeiten.

1982

Beschäftigte ziehen ins heutige Haupt­gebäude am Kesslerweg ein – teils aus den Stand­orten Wolbeck, Buckstraße und Hafengrenzweg. Am 6. November dann die Er­öffnungs­feier. Mit der Eröffnung beginnt die Betreuung von schwerst­mehr­fach­be­hinderten Menschen in einer Gruppe mit vier Beschäftigten.

1983 - 1989

1983/84:
Die Wohn­stätte Haus Gremmen­dorf wird neu­gebaut: In drei Reihen­haus­teilen mit Doppel- und Einzel­zimmern haben 88 Bewohner­innen und Bewohner Platz.

1988:
Die neu­ge­baute Gärtnerei wird eröffnet. Im Mai folgt die Zweig­werk­statt für Menschen mit psychischer Behinderung mit 40 Plätzen.

1989:
Die Zahn­arzt­praxis am Kesslerweg öffnet ihre Pforte. Es gibt ein Be­hand­lungs­zimmer.

1990

Der erste Vertrag zwischen der Geschäfts­führung und der Be­schäftigten­ver­tretung (Vor­läufer des Werk­statt­rates) wird unter­zeichnet. Lange vor der gesetzlichen Pflicht ab 2001 wird die Mit­wirkung von Be­schäftigten offiziell fest­gehalten.

1990

Zum 1. April über­nimmt Westfalenfleiß Gut Kinder­haus. Zuvor hat es der Westfälischen Klinik für Psychiatrie Münster gehört. Über­nommen werden die Wohn­heim­plätze und der land­wirtschaftliche Betrieb.

1991 - 1993

1991:
Hoch­zeits­glocken läuten für Werner Kohr und Maria Franke, dem ersten Ehepaar von Menschen mit Be­hinderung bei Westfalenfleiß.

1992:
Die erste Außen­wohn­gruppe Gustav-­Tweer-­Weg wird fertig­gestellt.

1993:
Die Wohn­stätte Telgte mit Plätzen für 27 Bewohner­innen und Bewohner wird fertig­gestellt.

1996 - 1998

1996:
Das Qualitäts­management in der Werk­statt beginnt.

1998:
Ein ereignis­reiches Jahr: die Werk­statt erhält ihre erste TÜV-­Zertifizierung und Westfalenfleiß beteiligt sich am EU-Projekt „Nadeshda“ (1998 -2000) für 29 jüdische Flücht­linge aus der ehe­maligen Sowjet­union.

2001

Die ersten Außen­arbeits­plätze: Acht Beschäftigte starten in der LVM-Spülküche. Die „Werk­statt für Be­hinderte“ wird zur „Werk­statt für be­hinderte Menschen“. Westfalenfleiß geht mit einer eigenen Web­site online: www.westfalenfleiss.de. Und bei der Deutschen Fußball­meisterschaft der Werk­stätten für Menschen mit Be­hinderung schafft’s Westfalenfleiß auf Platz 1.

2002

Der Wohn­ver­bund differenziert sich: Es wird um­gebaut, neu gebaut, alle Doppel­zimmer werden auf­gelöst und es ent­stehen Wohn­formen wie WGs, ein Appartemen­thaus oder ein in­tegratives Wohn­haus. Westfalenfleiß wird erneut Deutscher Fußball­meister.

2003

Der Fach­dienst „Ambulant Unter­stütztes Wohnen“ (AUW) wird ein­gerichtet.

Noch im selben Jahr die nächste Gründung: Westfalenfleiß hat nun einen Gospel­chor. 

2004 - 2010

2004:
Abschluss der ersten FAB-­Ab­solventen: Fünf Westfalenfleiß-Gruppen­leiter qualifizieren sich erfolg­reich als staatlich anerkannte „Fach­kraft zur Arbeits- und Berufs­förderung“ (FAB).

2005:
Der Förder­verein „Kultur und Freizeit“ wird ge­gründ­et, um das kulturelle An­gebot und Frei­zeit­aktivitäten für Menschen mit Be­hinderung fort­zu­setzen und zu er­weitern.

2010:
Am 17. März ist die Gründungs­ver­samm­lung der Landes­arbeits­gemein­schaft der Werk­statt­räte mit Frank Szypior als AWO-Delegierten.

Das integrative Wohn­haus „Baum­berger Hof“ wird eröffnet.

2014

Land unter in Münster: Im Juli ver­wandelt stunden­langer flut­artiger Regen Straßen in Kanäle und lässt Häuser in der ganzen Stadt voll­laufen. Auch auf Gut Kinder­haus steht das Wasser: Ge­mein­schafts­räume und 17 Be­wohner­zimmer sind betroffen. Die Be­wohner werden vorüber­gehend in anderen Ein­richtungen unter­gebracht und Mit­arbeitende sowie Ehren­amtliche leeren und säubern die be­troffenen Zimmer sowie das geflutete Café und den Hof­laden.

2015 - 2018

2015:
Westfalenfleiß feiert sein 90. Firmen­jubiläum.

2018:
Helfen statt Hilfe be­kommen – unter diesem Motto startet 2018 ein Pilot­projekt bei Westfalenfleiß: Menschen mit Be­hinderung werden zu Ehren­amtlichen aus­gebildet. In Kooperation mit örtlichen Trägern entstehen Ein­sätze in Kitas, Nach­bar­schafts­treffs oder Senioren­heimen.

2020

Der erste Corona-­bedingte Lock­down erschüttert Deutschland. Bei Westfalenfleiß können rund 800 Beschäftigte nicht zur Arbeit kommen und die Werk­stätten bleiben ge­schloss­en. Später kann die Arbeit unter Ein­haltung von Schutz­maßnahmen weiter­gehen.

2022

Wie trennt man Müll richtig? Wie spart man Strom im Gruppen­raum? Und warum brauchen wir Wild­blumen für Insekten? Mit diesen Fragen starteten 2022 mehrere Um­welt­projekte bei Westfalenfleiß. In Kinder­haus wird eine Bienen­wiese angelegt, in Mecklenbeck zieht ein Reparatur­dienst für kaputte Alltags­geräte in die Werk­statt ein. Be­schäftigte über­nehmen Paten­schaften für Müll­stationen, kontrollieren Licht­schalter, dokumentieren Fort­schritte. Die Projekte zeigen: Nach­haltigkeit gelingt, wenn alle ein­bezogen werden – auch mit kognitiven Ein­schränkungen.

Als 2022 Menschen aus der Ukraine fliehen müssen, öffnet Westfalenfleiß Wohn­raum – und Herzen. Be­schäftigte und Teams helfen bei Orientierung, Sprache und An­kommen.

2023

Erstmals erhalten mehrere Be­schäftigte ein offizielles Zertifikat über ihre beruflichen Kompetenzen. Bildung wird sichtbar – und eröffnet neue Chancen.

2025

Ein ganzes Jahr­hundert Westfalenfleiß!